Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Das Atelier am Stadtrand 05.11.2015 (Zu Gast bei der Künstlerin Annedore Policek) Vor über einem Jahr bin ich hier gelandet, in Halberstadt, dem Tor zum Harz. Leute, die diesen Schritt hierher, aus welchem Grunde auch immer, gewagt haben, nennt man hier liebevoll Neu-Halberstädter. Das hat etwas von Respekt und vorsichtiger Umarmung, ohne dass man davon gleich erdrückt würde. Wir Neu-Halberstädter sind neu-gierig und deshalb sehen wir diese Stadt vielleicht mit etwas anderen Augen, als die „Ur-Einwohner“. Diese Neu-gierde sorgte dafür, dass ich, um einen mir gut bekannten Jazz-Musiker zu treffen, mich im Sommer zu einer Vernissage in die Martinikirche locken ließ. Davon abgesehen, dass mich die Klänge eines Saxophons unter dem Gewölbe eines majestätischen Gotteshauses fasziniert haben, waren es die Arbeiten von Annedore Policek, die mich staunen ließen. Da steckten so unheimlich viel Gelassenheit, Ruhe aber auch Abkehr von vordergründigen Aussagen drin, dass man beim Hinsehen inspiriert werden musste, weil sie dennoch still hinterfragte. Aus der Distanz habe ich sie mir zeigen lassen, bin zu ihr gegangen und habe sie angesprochen. Vor mir stand eine an Lebenserfahrung weise Frau, der man das Besondere ihres künstlerischen Lebens in keiner Weise ansah. Mit einem Autogramm auf ihrem Katalog bin ich nach Hause und Wochen später noch einmal in die Ausstellung gegangen. Der Zufall wollte es, dass die Künstlerin auch diesmal anwesend war. Nach einem kurzen Gespräch bot sie mir, einem ihr völlig unbekannten Menschen, einen Besuch in ihrem Atelier an. Wieder sind einige Wochen vergangen. Der Herbst dieses Jahres zieht sich in die Länge, wuchert mit Sonne sowie goldenen Farben und ich fahre heute in Richtung Klussiedlung. Bei der ersten Durchfahrt der einspurigen Straße verpasse ich den Zugang zum Anwesen. Vor einem zweiten Versuch stelle ich mein Fahrzeug am Feldrain ab und laufe in einen Hohlweg hinein, der versucht, eine Straße zu sein. Frau Policek empfängt mich mit einem Lob. Andere hätten diese Runde mehrmals gedreht, ohne den Zugang zu ihrem Anwesen zu finden. Sie weiß noch nichts von meinen zwanzig Jahren Erfahrungen im Außendienst. Minuten später fühle ich mich vom eigenen Staunen und der ungezwungen Art einer Künstlerin in den Bann gezogen. Nichts von alledem, was „man“ erwarten könnte, ist hier zu finden. Dieser Flecken am Rande der Stadt, versteckt hinter dichtem Baumwuchs und geschützt von einem steilen Hang, atmet Einklang und Ruhe, vielleicht auch ein wenig Distanz, die aber ANNEDORE POLICEK sehr dezent und charmant beiseite redet. Ich fühle mich heimisch, ohne jemals hier gewesen zu sein. Inmitten einer herbstlichen Oase dürfen meine Augen umher streifen, darf ich entdecken und werde dabei stets mit kleinen Hinweisen auf Besonderheiten geführt. Mir scheint es, als hätte sich die Natur angeboten, an welchen Stellen Ihr nach Ergänzung gewesen sei, wo Füße einen Weg treten könnten und wie ein kleines Atelier zwischen die Bäume passen würde, damit der Eindruck vom gemeinsamen Wachsen und miteinander Gestalten entstehen konnte. Hier ist alles natürlich gewachsen. Selbst scheinbar abgestellte Skulpturen oder ruppige Baumstümpfe tun so, als hätten sie alle ihre Plätze wachsend selbst erobert. Und auch das kleine Atelier, in das ich eintreten darf, schmiegt sich irgendwie unauffällig still in dieses Ensemble ein. Drinnen empfängt mich aufgeräumtes Chaos, so wie ich es auch von meinem Arbeitsplatz kenne. Als ich dann die Schwelle zu ihrem Atelier überschreite, ist mir, trotz eines enormen Respekts vor dieser Künstlerin, auf einmal wie Zuhause sein. Zwischen Pinseln, Farbtöpfen und abgestellten Arbeiten überall sowie an den Wänden, findet sich ein Plätzchen zum Reden. Hier drinnen erfahre ich aus ihrem Leben, höre Persönliches und Vergangenes, was in keinem Katalog geschrieben steht. Ich hatte mit Distanz gerechnet und erlebe in diesem Atelier ungezwungene Nähe mit viel Lachen, aber auch Nachdenklichkeit beim gemeinsamen Blick zurück. Dresden zum Beispiel, ein Ort, wo sie studiert hatte, aber auch der Ort, wo mein Vater seine erste Familie verlor. Kunststadt und Kriegsschauplatz, da kreiseln die Gedanken und treffen sich im Heute, einer turbulent gefährlichen Zeit, wieder. Mich freut, dass ich „schnüffeln“ und in quasi alle Ecken sehen darf. Die alte, von ihr bemalte, Uhr hat es mir ebenso angetan, wie einige Skizzen an der Wand hinter mir oder die alte Singer-Nähmaschine auf dem Fensterbrett. Und natürlich die vielen Arbeiten, die überall im Überfluss zu bestaunen und zu bewundern sind und meine Augen in einem Maße (er)tränken, dass es schon beinahe zu viel für diese kurze Zeit ist. Natürlich hätte ich gern mehr von ihr über so manches dieser Stücke erfahren, natürlich hätte ich sehr gern gehört, warum so und nicht irgendwie anders oder was ein Details erzählen kann, wenn ich sie danach fragen würde. Ich will einfach nicht aufdringlich sein, will nicht nerven, habe viel Respekt und schleppe in dieser Stunde vielleicht auch zu viel Distanz mit mir herum. Jemand hat mir mal geraten, sie nicht auf einen hohen Sockel zu stellen, aber genau das ist so schwierig zu machen. Immer noch besser, als selbst von einem Sockel herab zu agieren. Ich freue mich einfach nur, hier zu Besuch weilen zu dürfen und versuche, ihr zuzuhören. Eine oder zwei Stunden reichen sowieso nicht aus, das ganze künstlerische (Lebens)Werk einer fleißigen Künstlerin erkunden zu wollen. Allein zu spüren, dass die Möglichkeit dazu bestünde, empfinde ich als großen Vertrauensbeweis. In der Martinikirche hatte mich ein überdimensionaler dunkler Schmetterling, über dem Taufbecken hängend, beeindruckt. Im Gespräch kommt ANNEDORE POLICEK wie von selbst auf die Geschichte dahinter zu sprechen. Wenn man solche Zusammenhänge erfährt und versteht, sieht (oder hört) man Kunstwerke auf einmal in einem anderen Licht, liest man darin, wie in einem (Märchen)Buch. Es sind genau diese unscheinbaren Details, die mich faszinieren und die zu einem der, im wörtlichen Sinne, Bruchstücke in der Umgebung passen. Die bunten Kacheln, an die Außenwand gelehnt, erzählen so eine Geschichte und sie passen wiederum zu einer Erfahrung, die ich mit einem anderen Künstler in meinem Leben machen durfte. So fügen sich im Laufe einer reichlichen Stunde Stück um Stück zu einem Bild, unvollständig noch, aber erstaunlich interessant. Sie erzählen stumm aus dem Leben einer „Schau-lustigen“, wie sie in der Martinikirche respektvoll genannt wurde, von einem Menschen, der genau beobachten kann und mit seiner Kunst leise zu uns sprechen möchte. ANNEDORE POLICEK besteht darauf, mir ihr Heim zu zeigen. Den Weg dorthin säumt ein blühender Spätherbst, ein ehemaliges „Wohnzimmer“ für Kinder und, welch Überraschung, ein Apfelbäumchen. Ich bin so perplex, dass ich mir verkneife, ihr meine Geschichte vom Apfelbäumchen zu erzählen, die wieder so eine eigenartige Parallele darstellt, mit der ich hier nicht gerechnet hätte. Inzwischen bin ich wohl auch dermaßen emotional aufgeladen, das ich nur noch in Facetten wahrnehmen kann. Auch dass ich mich hier im Spiegel des Fensters, neben einer Arbeit mit Naturmaterialien, entdecke, passt irgendwie zu meinem Befinden. Höflich folge ich ihr in die Privaträume, lehne aber die Einladung auf einen Tee ab. Der Wunsch, mehr zu sehen und zu erfahren, ist groß, aber die Kapazität dessen, was ich speichern könnte, inzwischen erschreckend klein geworden. So viel Vertrauen und Großherzigkeit, so viel intime Nähe und Wärme, hatte ich bei der Künstlerin nicht erwartet. In diesen Minuten bin ich ihr sehr dankbar dafür und freue mich über die Einladung, sie wieder, und dann mit einem Tee auf dem Tisch, zu besuchen. Ein beglückendes Gefühl, sich mit diesem Wissen voneinander, in den Abend hinein, verabschieden zu können. Am Ende des Hohlweges legt sich schon die Dämmerung über die Klussiedlung und die einsamen Bäume, während ich mich auf den Heimweg mache. Ich habe keine Vorstellung davon, ob die Mehrzahl der interessierten (Alt)Halberstädter wissen, wer da vor ihrer städtischen Haustür lebt und Großartiges geschaffen hat. Mich hat die erst kurze Zeit in der Stadt, entgegen meinem eigenen Wollen, völlig neu inspiriert und meine Neu-gierde geweckt, ohne dass ich dafür so etwas wie einen Plan gehabt hätte. Es ist mir einfach schon wieder so etwas passiert. Diese Begegnung mit ANNEDORE POLICEK ist nur eine dieser wunderbaren Erfahrungen der letzten Jahre, die ich inzwischen gar nicht mehr missen möchte, weil sie mein Leben auf neue Art und wunderbare Weise bereichern.
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, zufälligen Begegnungen und Entdeckungen im Harz.